Hinter dem Messie-Syndrom steckt viel mehr, als Chaos. Ich bin Fe Rodekohr. Als ausgebildete Messie-Fachkraft möchte ich Ihnen hier einmal die Facetten des Messie-Sydroms (umgangssprachlich) bzw. der Wertbeimessungsstörung erklären.
Verzerrte Selbstwahrnehmung
In meinem letzten Blogpost habe ich berichtet, dass viele Kunden, die nach Aufräumhilfe fragen, eine verzerrte Selbstwahrnehmung haben: Entweder befürchten sie, ein Messie zu sein, sind es aber nicht oder sie sind ein Messie, aber merken nicht, dass die Grenzen ihrer Wohnung schon lange überschritten sind und jeder noch so kleine Fetzen Stoff zu viel wäre.
Woher erkennt man also, dass man am echten „Messie-Syndrom“ leidet?
Zunächst müssen wir festhalten: Das „Messie-Syndrom“ gibt es nicht. Gleichwohl daraus gesellschaftlich regelrecht ein Messie-Mythos entstanden ist.
Vielmehr gibt es zwei wesentliche Varianten des „Messie-Syndroms“: Das Vermüllungs-Syndrom und das pathologische Horten.
A) Das Vermüllungs-Syndrom
Diese psychische Erkrankung hat sich seit Jahren einen festen Platz im ICD- der WHO (Weltgesundheitsorganisation) erkämpft. Oft geht das Vermüllungs-Syndrom Hand in Hand mit anderen Suchterkrankungen. Betroffene sammeln alles, was nicht niet- und nagelfest ist: Lebensmittel-Verpackungen, alte Briefumschläge, vertrocknete Blumensträuße, Pappkartons und Einkaufstüten – die Liste könnte endlos fortgesetzt werden!
Es geht ihnen nicht darum, diese Schätze für den großen Tag der Verwendung aufzuheben; vielmehr können sie sich einfach von nichts trennen. Leider kann der Verpackungsmüll zu ungebetenen „Mitbewohnern“ und schlechten Gerüchen führen. Gleichzeitig bemerken die Betroffenen oft nicht, wie sich ihre Wohnung in ein Chaos verwandelt, in dem man sich kaum noch bewegen kann. Wenn Ordnungshelfer oder Sozialarbeiter zu Hilfe kommen, sind die Betroffenen überglücklich, dass das Chaos ein Ende findet! Doch Vorsicht: Oft ist dies nur ein kurzes Aufatmen, denn die Wurzeln des Syndroms sind tiefgehende Verletzungen und Erfahrungen, die eine einfühlsame Therapie und begleitende Wohnraumhilfe erfordern, um wirklich heilen zu können.
B) Das pathologische Horten
Diese Variante des „Messie-Syndroms“ ist erst seit 2022 im ICD-11 gelistet. Menschen, die pathologisch Horten, sind Meister im Sammeln – und zwar bis die Wohnung völlig überfüllt ist! Sie haben kein Gespür dafür, dass ihre Stauräume längst überquellen. Wenn man Betroffene fragt, ob ein Gegenstand entsorgt werden kann, findet jede Keksdose einen nostalgischen Platz in ihrem Herzen. Was für die meisten „kaputt“ oder „nutzlos“ erscheint, strahlt für pathologische Horter eine unerkannte Schönheit aus. Jedes Objekt birgt Potenzial! Eine kaputte Plastiktüte mit buntem Motiv hat für sie den gleichen Wert wie eine goldene Uhr. Daher stammt auch der deutsche Begriff „Wertbeimessungsstörung“: Betroffene können den Wert eines Gegenstandes nicht adäquat einschätzen. Ihr Herz hängt so sehr an den Dingen, dass eine angeordnete Entrümpelung, oder eine gut gemeinte Aufräumaktion gegen ihren Willen mitunter zu Suizidalität führen kann.
Die Ursache der Erkrankung liegen häufig in der frühkindlichen Bindungsphase, in der Betroffene entweder zu wenig Liebe erfahren haben, zu viel Druck verspürt haben oder enge Bezugspersonen übergriffig gehandelt haben.
Erstaunlicherweise sind viele Menschen mit Wertbeimessungsstörung im Berufsleben äußerst erfolgreich, während es zu Hause ganz anders aussieht. Oft erkennen sie erst, dass sie Hilfe benötigen, wenn sie sich isoliert fühlen da sie niemanden mehr in ihre Wohnung lassen. Hier ist es entscheidend, dass diese Personen, sobald sie Hilfe suchen, vor allem therapeutisch betreut werden.
Die sogenannte Wohnraumarbeit kann dann ganz allmählich dazu kommen.
Neben diesen zwei anerkannten Varianten des Messie-Syndroms gibt es weitere Gründe, weshalb die Wohnungen von Menschen im Chaos versinken. Schauen wir uns drei von ihnen an:
Schicksalsschläge
Meistens sind es Schicksalsschläge, die Menschen völlig aus der Bahn werfen. Zuhause kann nur noch das absolut Notwendigste erledigt werden; außerdem ist es eine Kraftanstrengung, benutzte Gegenstände zurückzuräumen, sodass alles liegen bleibt. Je länger das Chaos bleibt, desto mehr verwandelt es sich in ein unbezwingbares Monster. Bei einigen dauert dieser Zustand Monate an, bei anderen sogar Jahre. Doch sobald die Erkenntnis kommt, dass Hilfe nötig ist, kann es oft schnell gehen. Betritt ein Helfer die Wohnung zum ersten Mal, wirkt die Wohnung zunächst wie ein Messie-Haushalt. Aber keine Sorge, hier kann schon einmaliges Aufräumen Wunder wirken!
Kaufsucht
Menschen mit Kaufsucht sehnen sich nach Adrenalin-Kicks. Doch das Adrenalin-High fällt nach dem Einkauf rasant ab. Dann verliert der Gegenstand jegliches Interesse, wird irgendwo in der Wohnung verstaut, und der nächste Kick muss folgen – am besten am selben Tag mit einem digitalen Klick auf den „Jetzt-Kaufen“-Button oder über den Fernsehsender QVC. Da es sich hier um eine Suchterkrankung handelt, hilft am Anfang nur der Entzug, am besten therapeutisch begleitet.
ADHS
ADHS ist ein weiterer stiller Chaosverursacher in vielen Wohnungen. Während einige Betroffene vor dem Computer sitzen und sich fragen, wie sie die E-Mail von vor einer Woche finden sollen, kämpfen andere mit dem Aufräumen. Lässt sich ADHS also daran erkennen, dass die Wohnung unordentlich ist?
So einfach ist es leider nicht. Vor allem, da auch besonders aufgeräumte Wohnungen ein Zeichen von ADHS sein können, und zwar dann, wenn das Aufräumen zum Hyperfokus wird und die Betroffenen blitzschnell zur Höchstform auflaufen.
Das macht es für Außenstehende oft schwer nachzuvollziehen, dass die Nachbarin ADHS hat, obwohl es bei ihr immer top aufgeräumt ist, während das eigene Familienmitglied mit ADHS nicht einmal das Kaugummipapier im Mülleimer entsorgen kann.
Medikamentöse Unterstützung hilft, doch bei sehr schweren Fällen bleibt der Erfolg manchmal aus.und die Aufräumhilfe verzweifelt daran, dass der Erfolg vom letzten Besuch schon lange wieder zerstört wurde
Vermüllungs-Syndrom, Pathologisches Horten, Schicksalsschläge, Kaufsucht, ADHS …
… all diese Wohnungen mögen auf den ersten Blick ähnlich aussehen, doch die Geschichten dahinter sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Leider werden Betroffene oft vorverurteilt, während gut gemeinte Hilfsangebote nicht immer erwünscht sind. Manche Betroffene lehnen Hilfe ab – und das sollten wir respektieren. Andere hingegen benötigen Unterstützung, da ihre Wohnungen zur Gefahr für sich und andere werden können. Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt!
Dazu bildet Veronika Schröter, die seit vielen Jahren mit Menschen mit Messie-Syndrom therapeutisch arbeitet und zu den Ursachen forscht, seit einigen Jahren Messie-Fachkräfte aus. Ich bin eine davon.